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Portugal dança - Teil 3


"Liebe Gäste, leider hat unser Zug im Zulauf auf Berlin einige Minuten Verspätung." – und das schönste daran: Ist mir relativ egal.

Ich sitze im ICE in die Spreemetropole. Das gleichmäßige Surren des Zuges vermischt sich mit gedämpftem Alltagsgeplauder. Vor drei Tagen ging meine Rennsaison zu Ende – allerhöchste Eisenbahn also die Portugal-Erzählung abzuschließen. Verheißungsvoll angeteasert mit "Das Beste kommt zum Schluss" – recapitulate zurück in den August!




Etappe 7


"Viertletzte Etappe" – so beginnt irgendwann das Zählen im Kopf. Tatsächlich war diese Etappe für mich persönlich die Beste. Gefühlt hat der Ruhetag mir fünf Lebensjahre zurückgegeben. Eine Bergetappe mit Bergankunft – ein guter Tag, um einen starken Tag zu haben.

Der Start war direkt Vollgas. Jeder wollte in die Gruppe, bis Kilometer 80 ohne Erfolg. Ich zumindest hatte sehr gute Beine, konnte öfter mitspringen, beim Boni-Sprint sogar mal Sekunden wegschnappen. Zur Hälfte der Etappe sprang Moran in die Spitzengruppe. Das bedeutete für uns: Kontrolliertes Nachfahren mit Glassdrive, die das GC anführten.


Ich glaube fast alle hatten an diesem Tag einen guten Tag. Als es dann in den vorletzten Berg ging, verpflegten wir Colin und Oscar so gut es ging. Ab hier wurde Vorarlberg-Geschichte geschrieben.

Zuerst hörten wir im Teamfunk: "Der zweite im GC hat Probleme, Colin und Oscar vorn". Am Berg holte dann die erste Gruppe des Feldes die Spitzengruppe mit Moran ein. Der fuhr nun Vollgas um den zweiten Teil des Feldes auf Distanz zu halten – opferte seine eigenen Ambitionen – mit Erfolg.

Im Schlussanstieg war Colin virtuell schon Führender in der Gesamtwertung. Reichte ihm nicht, er schoss das Ding ab!

Ich fuhr mit Luki den letzten Berg hoch, ins Teamauto schauend verfolgten wir den Livestream, hörten das Teamradio – und schließlich den Moment als Colin aus einer kleinen Gruppe heraus den Sprint gewann. Das war für mich der emotionalste Moment – und zeigt, was man als Team erreichen kann – und was für ein Monsterbein Colin an diesem Tag montiert hatte.

Die Freude bei allen war überwältigend. Aus der Hoffnung auf ein gutes Ergebnis, war der Traum vom Gesamtsieg geworden.




Etappe 8


Doch auch so eine Etappe hinterlässt seine Spuren. Ich persönlich war am "drittletzten Tag", wie wir Nichtkletterer sagen, müder als gedacht.

Wieder Bergaufstart, wieder Attacke um Attacke, wieder Leiden von Anfang an.

Doch nun waren wir das führende Team, kontrollierten das Rennen, bestimmten wer, wann, wo, wie in die Gruppe ging. Und das war ein ungewohntes, aber umso motivierendes Gefühl.

Pirmin, Rueggi, Luki, Moran und ich hielten die Spitzengruppe vorn im Rahmen. Im Finale habe ich dann ziemlich früh die Segeln gestrichen, ist aber nicht dramatisch, wenn man den ganzen Tag von vorn fährt.


Colin und Oscar waren im Gravel-Finale erneut präsent. Keine Zeit verloren, alle heil angekommen, Check.




Etappe 9


Die neunte Etappe ist ein Tag an den ich nicht gern zurückdenke. Mittlerweile war ich relativ müde. Und die ersten 70 Kilometer waren wieder Vollgas. Für manche Teams ging es noch um die Sprintwertung, jeder wollten den Tag nochmal nutzen, Krieg von Anfang bis Ende.

Als ich das dritte Mal den Anschluss verlor, noch bevor die richtigen Berge kommen sollten, war mir klar: Das wird heute ein Rendezvous mit dem Zeitlimit.


Den ersten langen Berg fuhr ich mit Pirmin dann All-Out, an der Spitze des Feldes, bevor wir uns verabschiedeten. Exakt 100 Kilometer fuhren wir nun zu Viert, durch die Hitze, kaum Verpflegung, mental beschädigt.

Es kam besser und besser: An der vorletzten Bergwertung begleiteten uns irgendwelche Stechmücken. Neben der Anstrengung und Dehydration, schlugen wir wild um uns. Das machte schon etwas weich im Kopf.

Als wir dann mit bereits 30 Minuten Rückstand an den Fuß des letzten Berges kamen, waren wir nicht sicher, ob wir es vor dem Timecut ins Ziel schaffen würden. Und dabei war dieser Anstieg wahrscheinlich der ikonischste Berg in Portugal. Liebevoll der Bierberg genannt, türmte sich Senhora da Graça vor uns auf, wie der Torwächter in Kafka – gefühlt übermächtig, aber mit dem richtigen Wille – doch irgendwie zu überlisten.


Von den begeisterten Portugiesen und den aneinandergereihten Bierflaschen am Straßenrand, bekamen wir wenig mit. 42 Minuten, 20 Sekunden, but still in the race!




Etappe 10


Letzte Etappe, Einzelzeitfahren. 18,2 Kilometer, Bergankunft.


Schon Anfang des Jahres habe ich mir diesen Tag als Ziel gesetzt. Endlich mal ein Zeitfahren auf einer Rundfahrt. Daher war ich zunächst schon mal happy, noch im Rennen zu sein.

Ich bereitete mich mental nochmal voll auf 20 Minuten All Out vor.


Und es lief tatsächlich ganz gut, vom Ergebnis etwas hinter meinen Erwartungen, aber als ich im Ziel völlig entkräft gegen die Bande sackte, war ich unfassbar glücklich.

Kalte Sprite in der Hand, zur Linken die untergehende Sonne über der Altstadt, vor mir das Monumento de Santa Luzia – eine imposante Kathedrale über der Stadt. Im Hintergrund der endlose Horizont über dem Meer.

Ein angemessener Ort für das Ende unseres Portugalurlaubs.

Die Strecke führte aus der Innenstadt von Viana do Castello heraus über ein paar Dörfer. Nach der Hälfte knickte die Straße ab und schlängelte sich schließlich über Kopfsteinpflaster hinauf zur Kathedrale. Und wieder waren viele Menschen da, feierten jeden Fahrer, der sich hinaufquälte – unglaublich emotional.



Der schönste Moment war allerdings als Colin ins Ziel kam. Als Tagesdritter legte er ein Brett von einem Zeitfahren hin, verteidigte den ersten Platz der Gesamtwertung.

Zu diesem Zeitpunkt hatte meine Kehle schon das ein oder andere Superbock gesehen. Ausgelassen feierten wir den Erfolg. Ich glaube an diesem Tag, hat sich jeder ein kleines bisschen so gefühlt, als hätt er selbst die Portugal-Rundfahrt gewonnen. Völlig unerwartet – und dadurch umso spezieller.


Für mich persönliche war diese Zeit die emotionalste bis jetzt im Radsport. An solchen Tagen bekommt man einiges zurück für viele Stunden, Monate, Jahre Training, Entbehrung, Zweifel.

Und das schönste daran: Es ist ein Teamerfolg, an dem jedes noch so kleinste Glied des Teams seinen Anteil hat. So richtig verstehen konnte ich das erst, nachdem mir in den nächsten Wochen die vielen Dinge bewusst geworden sind, die in dem Moment manchmal selbstverständlich wirken: Der klimatisierte Bus, die Detaillarbeit des Staff, die monatelange Orgaplanung – und ein Colin Stüssi im Tornadomodus, der das alles zu einem Puzzle zusammenfügt.


So etwas passiert nicht einfach so, aus ein bisschen Glück heraus, selbst wenn es sich in dem Moment so anfühlt. Und genau das macht es so schön!



Wir alle tranken an diesem Tag das ein, zwei, drei oder andere Superbock. Von jedem viel die Spannung ab.

Spät am Abend ging es dann ins Hotel. Ein kleiner Küstenort im äußersten Norden Portugals. In Vila Praia de Âncora verbrachten wir den Abend in einer Bar, rekapitulierten die Rundfahrt, vergaßen die Rundfahrt, schalteten den Kopf aus.

Früh am nächsten Morgen ging ich spazieren am Strand – entlang des schmalen Küstenstreifens, versuchte mal an nichts zu denken, nur den immer wieder unvorhersehbar anrauschenden Wellen auszuweichen.


Was die letzten zwei Wochen geschehen ist, wird mir erst in den nächsten Wochen so alles bewusst. Jetzt gerade, bin ich glücklich. Tip, tap, tip, tap – einfach nur laufen, den Geruch von Salz in der Nase, das zischende Schäumen der Gischt im Ohr.



"Arrival in 19 minutes". In wenigen Momenten wird der Zug in den Berliner Hauptbahnhof eintrudeln. Keine Verspätung mehr – und das schönste daran: Ist mir relativ egal.


Macht's gut, euer Jon!


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