Bäume in allen Grüntönen vor mir – glitzernd in der Sonne. Um mich herum gelassene Plauderei. Ich sitze auf einer weiten Terrasse im Süden Canberras. Der Blick auf den Lake Burley Griffin könnte nicht besser sein. Der See ist fast spiegelglatt, kaum Wind. Dahinter erstrecken sich die Ausläufer des Tallaganda-Nationalparks. Es zieht mich raus in die Natur, diese Woche stehen allerdings ausgedehnte City-Expedition auf dem Programm.
Jetlag-Fighting
Als ich am Samstag in Canberra ankomme, bin ich maximal müde. Während der Anreise habe ich mir zwar fit gefühlt, in den letzten Tagen hat mich der Trip jedoch eingeholt. Jeden Morgen bin ich um 5 Uhr aufgewacht – hellwach. Ab Mittag und spätestens am Abend ging nichts mehr – todmüde. Stimmungsschwankungen, plötzliche Müdigkeit. Ehrlicherweise hatte ich mir Jetlag-Fighting einfacher vorgestellt.
Heute, am Donnerstag, fünf Tage später scheint es, als käme ich langsam an. Mein Körper verinnerlicht langsam den Rhythmus. Auch mental realisiere ich jeden Tag ein Stückchen mehr, wo ich gerade bin und was das bedeutet. Anfangs war alles etwas reizüberflutend, tausend Pläne im Kopf, am liebsten alles direkt umsetzen. Mehr und mehr lasse ich mich in den Moment fallen.
The most boring place?
Sonntagfrüh, 5.30 Uhr. Ich liege auf der Couch im Wohnzimmer. Draußen ist es noch dunkel. Nach mehreren zwecklosen Einschlafversuchen stehe ich auf, streunere durch den geräumigen Bungalow, über die Veranda, schließlich ums Haus. Sektor-Check. Schließlich laufe ich zum Bäcker, frühstücke. Parallel schaue ich mit Kaspar das Rugby-WM-Finale – first time for me. Er erklärt mir die Regeln und tatsächlich finde ich es spannend – Neuseeland gegen Südafrika. Sehr beeindruckend: Der neuseeländische Kriegstanz vor dem Spiel: "The Haka".
Gegen Mittag gehts zum ersten Mal in die Stadt. Canberra wurde auf dem Reisbrett entworfen. Schnurgerade, ewig lange Straßen, perfekt angeordnete Gebäude und Gründflächen. Moderne mehrstöckige Häuser – allerdings keine Wolkenkratzer, wie man sie in einer Landeshauptstadt erwartet. Gebäude dürften nur eine bestimmte Höhe haben, wie mir Kaspar später erklärt.
Die Gartenstadt wirkt unaufgeregt. Sie versprüht eine entspannende Atmosphäre. Und bei all dieser Verschlafenheit scheint man doch an einem besonderen Ort zu sein. Gebäude bedeutende politischer Institutionen zieren die Zentren von Canberra. Ich spüre die Bedeutung der Gartenstadt – doch vom Trubel her, könnte ich auch in Kassel sein.
Ich reise nach Australien und mein erster Anlaufpunkt ist eine Stadt, die die Australier als "Most boring place" bezeichnen. Die ideale Gelegenheit, das Gegenteil herauszufinden. Auf einem Sticker auf einem Straßenschild steht zumindest schon mal "Canberra thinks you're bring too".
Weitblick und Rückblick
Let's start the action. Am Montagnachmittag fahren wir in den Vorort Ainslea, gehen entspannt frühstücken. Der Kaffee ist hier übrigens an jeder Ecke gut. Was die Australier besonders draufhaben ist die Temperatur. Ich bin alles, nur kein Barista-Experte, aber das erkenne selbst ich.
Wie mir Kaspar verrät, würde er hier am liebsten ein Haus bauen. Ruhige Wohngebiete, lindengrüne Ahorn-Alleen, weite Platten-Gehwege, pastellfarbene Wohnhäuser – allerdings auch unfassbar hohe Grundstückspreise.
Wir fahren auf den Mount Ainslea. Die höchste Erhebung Canberras. Von hier fällt der Blick in alle Richtungen über die Stadt, sowie die sich dahinter seicht auftürmenden Gebirge. Der höchste Berg Australiens, der Mount Kosciuszko, ist nur zwei Stunden entfernt. Bergiger wird es auf meinem Australien-Trip nicht.
Nachmittags fahren wir in das Australian War Memorial – Kaspars Lieblingsort. Eindrucksvoll wird hier die Kriegsgeschichte Australiens veranschaulicht. ich finde spannend, welche Perspektive Australien auf den zweiten Weltkrieg hat. Um es mit wenigen Worten auszudrücken: Deutschland erscheint etwas harmloser, wie einer von mehreren Schuldigen einer unbeschreiblichen Katastrophe der Menschlichkeit – nur ein rein subjektiver Anschein.
Auf der scheinbar endlos langen "Roll of honour" ist der Name Kaspars Urgroßonkels eingraviert.
Im Anschluss gehen wir vietnamesisch essen – überraschend, unfassbar lecker. Wir schlendern noch etwas durch die Innenstadt. In einem alten Buchladen gehen wir einen Flat White trinken und lassen den Tag ausklingen.
Canberra aus allen Perspektiven
Die nächsten Tage verbringe ich größtenteils allein. Kaspar, der als Handwerker arbeitet, ist unterwegs. Zeit, die ich allein plane, und bewusst versuche zu genießen.
Ich streife durch die Stadt, probiere mich durch die zahlreichen Cafés, schreibe viel – Tagebuch und Blog, und lese.
Kleine Buchempfehlung an dieser Stelle: "Allein zwischen Himmel und Meer" vom Einhandsegler Boris Herrmann. Er beschreibt beeindruckend eindrücklich, wie er in 80 Tagen bei der Vendée Globe, ein Segelrennen, allein um die Welt segelt. In Momenten, in denen ich mich einsam fühle – und das wird in den nächsten Monaten hier noch öfter passieren – denke ich an Boris Herrmann.
Am Mittwoch ist Museumstag. Ich besuche die Portrait Gallery und die National Art Gallery – eine imposante Kunstsammlung. Es geht um die Geschichte der australischen Ureinwohner, die Aborigines.
Am meisten fesselt mich die Bilderserie von Sidney Tolan über Ned Kelly: Ein Mörder, Bushranger, aber auch Widerstandskämpfer des australischen Outbacks. Der noch heute als Held gefeierte "Robin Hoods Australiens" ist eine Symbolfigur des Widerstands gegen die Autoritäten.
Ich muss gestehen, dass mich besonders die emotionslosen, doch in ihrer Tiefe hochemotionalen Bilder von Nolan beeindrucken. Ein schönes Beispiel dafür, wie wichtig Kunst bei der Außeinandersetzung mit Geschichte, bzw. dessen Aufklärung sein kann.
Nachmittags laufe ich durch den Skulpturen-Park und beobachte eine bunt gemischte Gruppe Menschen beim Rugby spielen. Canberra macht einen ungezwungenen, aufgelockerten Eindruck – erfrischend.
Gegen Abend treffe ich Kaspar. Es steht ein sportliche Herausforderung auf unserem Plan – meine erste seit drei Wochen Offseason.
Unser Ziel: Der Mount Ainslea, knapp 800 Meter hoch, zwei Kilometer, 200 Höhenmeter Wanderweg. Direkt am Anfang erwartet mich dann eine emotionale Premiere. Zum ersten Mal sehe ich Kängurus. Ich hätte sie nicht entdeckt, aber Kaspar scheint ein gutes Auge dafür zu haben. Auf dem Weg nach oben erzählt er mir, wie normal so eine Begegnung hier sei. Wir sehen vier graue Weibchen. Die Männchen sind rot. Vor ein paar Monate habe er zwei mit den Fäusten kämpfende Kängurus aus dem Auto gesehen. Ich bin gespannt, mit welchen Erlebnissen sich meine Känguru-Vita in den nächsten Wochen füllen wird.
Eine abschließende Anmerkung: In den letzten Tagen spüre ich, wie sehr der Sport meinem Körper fehlt. 48 Wochen des Jahres dreht sich jeder Tag um Radsport. Seit drei Wochen steigt mein täglicher Puls nicht mehr über 100. Da ist eine innere Unruhe, ich merke, wie mein Herz schlägt – als sei der Körper angestrengt davon nichts zu machen, abzuwarten.
Auf der anderen Seite möchte ich die Offseason bewusst genießen. Alles muss seine Zeit haben. Das Rad steht sein fünf Tagen umausgepackt in Kaspars Garage. In vier Tagen geht es wieder los. Ich spüre, wie das Feuer langsam wiederkommt – ein Zeichen, dass die Pause ihren Zweck gerade erfüllt.
Zeit mit Jon
Die Terrasse ist mittlerweile komplett leer, die Stimmen sind verstummt. Bewusst höre ich die Vögel die Stille überzwitschern. In dreißig Minuten schließt das Café. Punktlandung. Mein Blick gleitet über den See. Der perfekte Moment für einen nachmittäglichen Spaziergang.
Macht's gut, euer Jon!
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