"I've been looking for my savior, looking for my truth (...)" "Jesus in LA". Es könnte kein passenderes Lied im Hintergrund laufen. Ich sitze auf einer Holzbank irgendwo an einer Kreuzung mitten in Canberra, Australien. Während ein älterer Mann neben mir ein schmuckes Selfie macht, schlürfe ich einen Flat White – on top Halloween Latte Art. Unter dem Schatten eines Ahornbaums schlage ich zum ersten Mal den Laptop auf und schreibe. Die letzten Tage waren bunt.
Vom Hirngespinst zur Realität
6. September 2023 – irgendein längst vergessener Spätsommertag. Ich fahre gedankenverloren nachhause. Aus dem Nichts kommt mir ein Gedanke, den ich nicht mehr vergesse: Warum nicht alles Geld zusammenraffen und nach Australien fliegen? Die rennfreie Zeit im Winter nutzen.
Immer wieder, aber in letzter Zeit immer seltener kam mir dieser Gedanke. Und plötzlich ist er stechend scharf und konsequent. Ich will ihn unbedingt umsetzen. Jetzt gleich, sofort.
In den nächsten zwei Tagen buche ich den Hinflug, Rückflug bleibt erstmal offen, beantrage Visa, Führerschein, plane, spinne, überlege.
Früher waren häufig die Crawleys bei uns zuhause. Dorothee Crawley ist eine alte Freundin meines Vaters. Gefühlt haben die Crawleys schon überall in Australien gewohnt, eine neunköpfige Familie. Offenherzig, gesprächig, lustig, auf eine sympathische Art verrückt.
Als Kaspar, einer der Söhne, im September 2022 zuletzt in Deutschland war, haben wir erneut romgesponnen: "Just come over, why not, let's go".
13 Monate später besuche ich Kaspar in Canberra. Dass ich es tatsächlich umsetze hätte ich nicht erwartet. Nach Canberra will ich reisen, wohin genau oder wie ist noch ungewiss. Doch davon mehr in den nächsten Wochen!
Schach!
Meine Reise-Odyssee nach Australien ist aufjedenfall ein Wörtchen wert. Am Donnerstag, 28. Oktober, 15.25 Uhr startet der erste Flieger von Düsseldorf nach Doha, Katar. Die nächsten 48 Stunden werden hart. Drei verschiedene Flüge, jedes Mal neu einchecken, kurze Anschlusszeiten, kaum Schlaf.
Die Reise verläuft zunächst überraschend reibungslos. Von Doha geht es um 2.30 Uhr weiter nach Ho-Chi-Minh-City, Vietnam. Und hier beginnt das Schachspiel. Ich lande um 13.45 Uhr Ortszeit, 45 Minuten früher als geplant. Was ich gerade ich nicht weiß: Ab jetzt zählt jede Sekunde. Der letzte Flieger geht um 19.30 Uhr nach Sydney.
Koffer? Angekommen. Mein Rad? Angekommen. Raus aus dem Flughafen, eine Etage hoch, wieder rein, einchecken. Im stickigen Herzen Vietnams sind es 28 Grad, grauer Himmel, eine Luftfeuchtigkeit von 200 Prozent. Tausende Menschen hasten von A nach Z.
Als ich meinen Koffer aufgeben will verrät mir der Mitarbeiter von VietJet (Fluggesellschaft), dass nur mein Rad besucht ist. Für meinen normalen Koffer müsse ich nun pro Kilo bezahlen: Schlappe 375 US-Dollar. Ich überlege kurz, rechne in Euro um. Auf meinem Kreditkartenkonto befinden sich nur 300 Euro. Mehr hatte ich von meinem Konto nicht draufgebucht. "Sorry, i don't can pay it. Impossible." Der Mann hinter dem Schalter überlegt kurz. "Give me 200 US-Dollar in cash, then it's okay." So war, so good. Wo bekomme ich nun US-Dollar in bar her? Schach! Ich zieh den König aus dem Sichtfeld seines Läufers. Ab jetzt zählt jede Sekunde.
Dong saving lifes
Ich laufe aus dem Flughafen auf der Suche nach einem Geldautomaten. In deutscher Manier in Winterjacke, Pulli, langer Hose läuft mir der Schweiß nicht nur sprichwörtlich den Rücken herunter.
Nach kurzer Zeit entdecke ich zwei heruntergekommene Geldautomaten. Möchte ich hier meine Karte reinstecken? Was bleibt mir anderes übrig. Ich zögere, laufe zurück in den Flughafen. Kein Automat in Sicht. Als ich kurze Zeit später zurückkomme stecke ich die Karte in den Schlund des Bankomaten, klicke mich auf vietnamesisch durchs Menü. Schließlich hebe ich 5.404.080 Vietnamesische Dong ab. Ich stopfe den Papierhaufen in die durchgeschwitzt Jackentasche, hetze zurück zum Flughafen. Dort tausche ich die Dong in US-Dollar.
Inzwischen sind drei Stunden vergangen. Ich frequentiere zurück zum Check-In-Schalter. Der Mann wirft mir bereits aus der Ferne einen abweisenden Blick zu. Ich bleibe stehen. Dann unterbricht er seine Arbeit, kommt langsam auf mich zu. Er gibt mir ein Zeichen ihm zu folgen. Als wir auf der Toilette sind streckt er die Hand aus, ich gebe ihm die 200 US-Dollar, bedanke mich. Er nickt. Es fühlt sich an, als würde ich alles für diese 200 US-Dollar bekommen, nur nicht meine Garantie nach Sydney zu fliegen. Er überreicht mir die Bordkarte.
Mit meinem Turm schlage ich seinen Läufer. Schach defended! Meine Chancen auf ein erfolgreiches Ende dieser Reise steigen. Es geht durch die Passkontrolle, Sicherheitscheck, zum Gate. Ich bin pünktlich, on Point. Es ist 19 Uhr. Ich steige in den Flieger und atme zum ersten Mal wieder aus.
Touchdown Down Under
Auf dem letzten Flug mache ich kein Auge zu. Um 9.25 Uhr lande ich in Sydney. Der letzte Schreckmoment des Tages wartet noch auf mich. Nach gefühlt einer Ewigkeit kommt mein Koffer an. Dann stocken die Gepäckbänder plötzlich. Ich stehe dort – mit allem außer meinem Radkoffer. Niemand weiß, wo der Radkoffer ist. Doch schließlich, eine halbe Stunde später trägt ein Flughafenbeamter doch noch die sperrige Radtasche um die Ecke. Puh, dem Schachmatt erneut ausgewichen.
Ich laufe aus dem Flughafen, setze mich in den gebuchten Bus. Drei Stunden geht es nun nach Canberra. Dort will mich Kaspar gegen Mittag aufsammeln. Ich schließe die Augen, schlafen kann ich immer noch nicht. Doch der Blick aus dem Fenster ist es wert wach zu bleiben: Weite gelbgrüne Wiesen gleiten sanft auf und ab, gespickt mit weißen Eukalyptus-Bäumen und hellgrünen Akazien. Der Himmel ist stechend blau, die Wolkenkonturen scharf. Die Sonne wirft ihre stechenden Strahlen durch den Bus, angenehme 22 Grad. Ich habe wahrlich das Gefühl in den letzten 48 Stunden Strecke gemacht zu haben. Hier sieht es anders aus.
Die Müdigkeit vermischt sich mit der Vorfreude auf alles, was mich die nächsten Monate erwarten wird. Kurze Zeit später erreiche ich Canberra, Kaspar holt mich ab. Bei ihm angekommen, fallen mir schnell die Augen zu.
Canberra Strolling
Ich schrecke hoch aus dem Schreibfluss. "Hey, may i sit next to you?" Ein junger Mann setzt sich schräg gegenüber, stellt sich als Zak vor, er hat Mittagspause, ist nervös, in einer Stunde hat er ein wichtiges Meeting, wir plaudern ins Blaue. Er empfiehlt mir ein Café und einen MTB-Trail, bevor er schon wieder weiter schlendert.
Inzwischen schallt Riptide aus dem Lautsprecher des Cafés. Ich merke meinen Rücken, muss mich mal bewegen.
Auf meiner heutigen Bucket-List steht der Skulpturen-Park am Lake Barley Griffin. Das Wetter könnte nicht schöner sein. Blaues Firmament so weit das Auge reicht.
Macht's gut, euer Jon!
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